Hoher Krankenstand in Deutschland: Was das für HR bedeutet
In den letzten Monaten berichten Arbeitgeber in Deutschland von einem steigenden Krankenstand – eine Entwicklung, die für viele Unternehmen eine große Belastung darstellt. Tatsächlich zählt Deutschland im europäischen Vergleich zu den Ländern mit den höchsten Krankenstandsquoten. Eine Reihe von Faktoren, darunter die veränderten Rahmenbedingungen durch elektronische Krankschreibungen, psychische Belastungen und eine zunehmende Aufmerksamkeit für das eigene Wohlbefinden spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Was sind die Ursachen für den hohen Krankenstand in Deutschland?
Die Krankenstandsquote befindet sich in Deutschland auf einem Rekordhoch. Laut AOK meldeten sich die Menschen in Deutschland allein bis zum August 2024 so häufig krank wie im gesamten vorherigen Jahr zusammengenommen. Der ehemalige Finanzminister Christian Lindner schlug bei diesen Zahlen sogar vor, die telefonische Krankschreibung gleich wieder abzuschaffen. Seiner Ansicht nach erleichtere diese Regelung die Krankmeldung zu sehr und trüge damit zum hohen Krankenstand bei.
Doch egal, ob mit oder ohne telefonischer Krankschreibung: Die hohen Krankenstände sind ein ernstzunehmendes Problem für die deutsche Wirtschaft. Darum ist es für HR jetzt wichtig zu wissen, was genau die Ursachen für diesen Anstieg der Krankmeldungen sind. Nur so haben HR-Manager die Möglichkeit, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um diese Herausforderung anzugehen.
1. Elektronische Erfassung und erhöhte Meldegenauigkeit
Seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (eAU) 2022 in Deutschland werden Krankmeldungen genauer und zuverlässiger erfasst als je zuvor. Wie der Wirtschaftsexperte Nicolas Ziebarth im Gespräch mit der Berliner Morgenpost erklärte, trägt der technische Fortschritt bei der Erfassung dazu bei, dass auch Krankheitsfälle, die früher teils unerfasst blieben, nun registriert werden. In Kombination mit einer langfristigen Bereitschaft der Arbeitnehmer, Krankheitstage wahrzunehmen, sorgt dies für scheinbar hohe Zahlen, obwohl die Quote in der Realität möglicherweise gar nicht gestiegen ist.
2. Psychische Gesundheit und der Einfluss von Long Covid
Ein weiterer zentraler Faktor, der seit der Pandemie an Bedeutung gewonnen hat, ist die mentale Gesundheit der Belegschaft. Zahlreiche Arbeitnehmer sind von Long Covid betroffen und kämpfen mit anhaltenden Symptomen wie Erschöpfung, Konzentrationsproblemen und Atembeschwerden, die ihre Arbeitsfähigkeit stark einschränken. Hinzu kommen durch die Pandemie ausgelöste psychische Belastungen, wie erhöhte Ängste und Depressionen, die sowohl die Fehlzeiten als auch die Produktivität beeinflussen.
3. Belastung durch Informationsflut und soziale Medien
Die verstärkte Nutzung sozialer Medien, aber auch die tägliche Informationsflut und negative Nachrichtenlagen sorgen zunehmend für einen „Information Overload“. Diese kognitive und emotionale Überforderung trägt zur Zunahme psychischer Belastungen bei und ist somit auch ein Faktor für den hohen Krankenstand. Laut Studien nimmt die Nutzung digitaler Geräte und das Konsumieren von Inhalten während und nach der Arbeitszeit zu, was den Stresslevel der Beschäftigten erhöht und ihre Erholung erschwert.
4. Soziale Absicherung und die Rolle der Lohnfortzahlung
Das deutsche System der Lohnfortzahlung bei Krankheit, das eine volle Lohnfortzahlung von bis zu 6 Wochen gewährt, ist eines der großzügigsten weltweit. In Ländern wie Schweden werden nur 80 Prozent des Lohns an Krankheitstagen gezahlt, was oft zu kürzeren Fehlzeiten führt. Obwohl ein starkes soziales Netz positiv ist, führt diese Großzügigkeit auch dazu, dass Mitarbeiter bei leichten Krankheitssymptomen eher zu Hause bleiben, als dies in anderen Ländern der Fall wäre. Der Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius betonte im Manager Magazin, dass der hohe Krankenstand in Deutschland einen Unterschied zu anderen europäischen Ländern darstellt und für Unternehmen eine Herausforderung bedeutet.
Was Arbeitgeber und HR tun können, um den hohen Krankenstand zu bewältigen
Die Frage, wie Unternehmen – insbesondere HR-Manager – sinnvoll auf die hohen Krankenstände reagieren können, ist vielschichtig. Folgende Strategien haben sich bewährt, um sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit der Belegschaft zu fördern und den Krankenstand nachhaltig zu senken:
1. Flexibilisierung durch Teilzeit-Krankschreibungen
Eine Möglichkeit, die in Deutschland bisher kaum verbreitet ist, ist die Teilzeit-Krankschreibung. In Schweden beispielsweise können Ärzte Arbeitnehmer auch nur für halbe Tage krankschreiben. Das bedeutet, dass sie zwar offiziell eingeschränkt, aber teilweise arbeitsfähig sind. Dies könnte eine sinnvolle Lösung für Menschen mit leichten Erkältungen oder Belastungen sein, die keinen ganzen Arbeitstag durchhalten würden. Laut dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, wäre dies auch in Deutschland umsetzbar und würde die Arbeitswelt durch mehr Flexibilität entlasten. Für Unternehmen und HR bietet sich damit eine Möglichkeit, Mitarbeiter nicht komplett aus der Arbeit auszuschließen, sondern ihnen die Freiheit zu geben, im Homeoffice zu arbeiten und zugleich auf ihre Gesundheit zu achten.
2. Förderung der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz
Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen und ist ein Thema, bei dem HR eine zentrale Rolle spielt. Ein gezieltes Angebot von Resilienz- und Stressbewältigungstrainings hilft Mitarbeitern, mit Stress besser umzugehen und frühzeitig auf Warnsignale zu reagieren. Mental-Health-Programme einzuführen, regelmäßige Achtsamkeitsübungen zu organisieren oder eine offene Gesprächskultur über psychische Gesundheit zu fördern, wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden der Mitarbeiter und die Krankenstände aus.
3. Unterstützung durch flexible Arbeitsmodelle
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass viele Aufgaben von zu Hause oder hybrid erledigt werden können. Besonders bei leichten Erkrankungen (z.B. Erkältungen) ist es sinnvoll, Mitarbeitern Homeoffice anzubieten, wenn sie trotz Krankheit arbeitsfähig sind, aber dennoch eine Ansteckung anderer vermeiden möchten. Auf diese Weise bleibt der Arbeitsfluss erhalten und das Ansteckungsrisiko der Kollegen minimiert sich. Unternehmen, die diese Flexibilität anbieten, tragen dazu bei, dass Angestellte auch im Krankheitsfall noch in der Lage sind, produktiv zu sein, ohne ihre Gesundheit oder die ihrer Kollegen zu gefährden.
4. Sensibilisierung für Work-Life-Balance und Digital Detox
Die Work-Life-Balance von Mitarbeitern zu fördern, ist entscheidend für ihre Gesundheit und Produktivität. Ein wirkungsvoller Ansatz ist dabei das Konzept des Digital Detox – also das bewusste Reduzieren der Bildschirmzeit und digitalen Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeiten. Studien zeigen, dass ständige Erreichbarkeit die Gefahr von Stress und Burnout erhöht und eine echte Erholung vom Arbeitstag erschwert. Mit Digital Detox-Initiativen können Unternehmen ihre Mitarbeiter unterstützen, die Kontrolle über ihre digitale Nutzung zurückzugewinnen und so die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit besser zu wahren.
Konkret kann Digital Detox im Arbeitsumfeld durch Maßnahmen gefördert werden, wie z.B. das Einführen festgelegter Ruhezeiten, in denen keine E-Mail-Benachrichtigungen an Mitarbeiter gesendet werden, oder durch technische Einstellungen, die außerhalb der Arbeitszeit den Zugang zu geschäftlichen Kommunikationskanälen einschränken. Diese Maßnahmen geben Mitarbeitern die Freiheit, sich mental von der Arbeit abzugrenzen, was die Regeneration und damit die langfristige Gesundheit unterstützt. So fördern Unternehmen eine Kultur, in der das Abschalten nach Feierabend geschätzt wird, was sowohl die Zufriedenheit als auch die Produktivität steigert.
5. Präventive Gesundheitsangebote im Betrieb
Viele Krankheiten – insbesondere Atemwegserkrankungen – lassen sich durch vorbeugende Maßnahmen reduzieren. Gesundheitsprogramme mit regelmäßigen Check-ups, Grippeimpfungen oder anderen präventiven Maßnahmen verringern die Anfälligkeit der Belegschaft für häufige Krankheiten. Laut Robert Koch-Institut sind Erkältungs- und Atemwegserkrankungen Hauptursachen für Krankheitsausfälle in den Herbst- und Wintermonaten. HR nimmt hier eine tragende Rolle ein, indem es Gesundheitsmaßnahmen anbietet und die Mitarbeiter über Präventionsmöglichkeiten aufklärt.
6. Aktives Wiedereingliederungsmanagement nach Krankheitsphasen
Für die Wiedereingliederung von Mitarbeitenden nach einer längeren Krankheitsphase sind Programme wie das Hamburger Modell eine bewährte Methode. Dabei wird die Arbeitszeit schrittweise erhöht, was vor allem bei ernsthaften Erkrankungen, aber auch bei Bagatellerkrankungen eine effektive Maßnahme ist. Diese Programme werden auch präventiv eingesetzt, um Mitarbeiter nach kürzeren Fehlzeiten sanft zurück ins Arbeitsumfeld zu integrieren.
Gezielte HR-Strategien gegen hohe Krankenstände
Der hohe Krankenstand in Deutschland stellt viele Unternehmen vor große Herausforderungen. Aus der HR-Perspektive ist es entscheidend, die Ursachen und Dynamiken hinter der Krankheitsquote zu verstehen und darauf mit gezielten und flexiblen Lösungen zu reagieren. Dabei ist der Schutz und die Förderung der psychischen und physischen Gesundheit der Mitarbeiter ebenso wichtig wie das Schaffen von Rahmenbedingungen, die eine flexible Reaktion auf leichtere Krankheitsfälle ermöglichen. HR sollte hier eine Vorreiterrolle übernehmen, um sowohl die Gesundheit als auch die Zufriedenheit und Produktivität der eigenen Mitarbeiter zu fördern.
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